Konzepte und Strategien für die Gründung der Mieter*innengewerkschaft Berlin (MGB)
Dieser Text versteht sich als erster Vorschlag für eine unabhängige Gewerkschaftsorganisierung von Berliner Mieter*innen.
Wir, die dies vorschlagen, sind Aktivist*innen, die bereits im Aufbau von Hausgemeinschaften, Stadtteil- und Mieter*innen-Initiativen engagiert waren und sind. Wir sehen die Notwendigkeit, eine Mieter*innengewerkschaft zu gründen, um eine langfristige Organisierung von Mieter*innen und den Aufbau von kollektiver Macht anzustoßen.
Dies stellt für uns eine überfällige Ergänzung zu den in der stadtpolitischen Landschaft aktiven Initiativen dar, den Strukturen vom Berliner Mieterverein und der Berliner Mietergemeinschaft. Wir sind davon überzeugt, dass der Vorteil einer Mieter*innengewerkschaft im langfristigen Aufbau von kollektiven Strukturen zur Durchsetzung der Interessen der Mieter*innen selbst liegt. Das Projekt dient weiterhin dazu, neue Kampfmittel und Forderungen zu etablieren, wie zum Beispiel das kollektive Mietrecht, die Mieter*innen-Selbstbestimmung und langfristig den Mietstreik mit dem Ziel, wirksamer für unsere Interessen zu kämpfen. Wir sind uns sicher, dass es anderen Mieter*innen ähnlich geht. Jenen möchten wir unser hier ausgeführtes Konzept näher bringen und sie für die Mieter*innengewerkschaft gewinnen.
Warum braucht es eine unabhängige Mieter*innengewerkschaft?
Zunächst soll diese Initiative lokal auf Berlin begrenzt sein, da wir hier leben und organisiert sind. In Berlin existieren zum Einen sehr mitgliederstarke Mieter*innenvereine, zum Anderen gibt es eine weite Landschaft aktivistischer Initiativen. Diese organisieren sich entlang von Eigentümer*innenstrukturen, Kiezen und räumlicher Nähe, Hausgemeinschaften oder gemeinsamen Themen des Wohnens und der Stadtentwicklung. Grundsätzlich sind dies auch die Kategorien, in denen innerhalb unserer Gewerkschaft gearbeitet werden soll. Bestehende Strukturen können sich der Mieter*innengewerkschaft anschließen, insofern dies von den entsprechenden Gruppen gewünscht ist. Es ist hierbei wichtig, dass diese Gruppen einen Nutzen aus einer Mitgliedschaft in der Gewerkschaft ziehen können.
Die Initiativenlandschaft ist derzeit ein Flickenteppich. Was ihr fehlt, ist eine schlagkräftige Gewerkschaft, durch die die Interessen der einzelnen Initiaven gebündelt werden und durch die die Mieter*innen mit einer vereinten, starken Stimme sprechen und gegen die Interessen der Vermieter*innen kämpfen können. Somit sollen die Kontinuität, die Wissensweitergabe und die Durchsetzung übergeordneter Forderungen erreicht werden. Mit Blick auf die vielen Initiativen und den oft thematisch und entlang von Kampagnen zeitlich begrenzten aktivistischen Charakter erhoffen wir uns von der gewerkschaftlichen Organisierung folgendes:
- eine neue Qualität von Langfristigkeit und strukturbasierter Organisierung
- die Erprobung neuer Kampfmittel wie direkte Aktionen und Formen des Mietstreiks
- die Erkämpfung kollektiver Mietrechte sowie Mieter*innen-Selbstbestimmung.
- die organisierte Wissensweitergabe untereinander mit dem Ziel der Mieter*innen-Selbstermächtigung.
Die derzeitigen Vereine werden von den meisten Mitgliedern als Dienstleister und Rechtsschutzversicherung genutzt. Dabei werden die einzelnen Mieter*innen aber sehr oft nicht selbst ermächtigt und erst recht nicht organisiert. Zudem wird die Individualisierung, die Vermieter*innen und das deutsche Mietrecht den Mieter*innen aufzwingen, von den Vereinen meist beibehalten. Eine Kollektivierung der Kämpfe findet zu wenig statt oder endet in individuellen Gerichtsverfahren. Nicht zuletzt dadurch, dass die Mitglieder wenig in die Strukturen eingebunden sind und wenig kämpferische und kollektive Aktionen stattfinden, bleibt die Lobbymacht der Mieter*innenvereine sehr eingeschränkt. An dieser Stelle wollen wir ansetzen und auf die
Grundzüge einer basisdemokratisch-föderalistischen Organisierung
Wir sehen unser Projekt der Mieter*innengewerkschaft in einer historischen Kontinuität zur Entwicklung der Lohnarbeitergewerkschaft. Diese entstanden vor ca. 120 Jahren aus kollektiven Kämpfen auf der Grundlage einer gemeinsamen proletarischen Realität innerhalb eines diversen Feldes von Interessengemeinschaften, Vereinen und Initiativen. Auch als Mieter*innen teilen wir eine gemeinsame Lebensrealität, die vom Privateigentum an Wohnraum bestimmt wird. Wir wollen Kampfformen, die sich im Feld gewerkschaftlicher Arbeitskämpfe etabliert haben, auch auf die sozialen und strukturellen Auseinandersetzungen im Bereich Wohnen anwenden.
Gewerkschaft ist nicht gleich Gewerkschaft. Politische und soziale Organisationen können große Unterschiede aufweisen. Wir wollen eine pluralistische, unabhängige Mieter*innengewerkschaft sein, die so vielfältig ist wie die Mieter*innenbewegung selbst. Die Berliner Mieter*innengewerkschaft soll kämpferischer Ausdruck der verschiedenen Positionierungen und Probleme sein, mit denen Mieter*innen heute zu kämpfen haben. Statt primär an die Politik zu appellieren, kann sie mit ihren Kampfmitteln in den Ring gegen scheinbar übermächtige Vermieter*innen steigen. Die Gewerkschaft soll föderalistisch und basisdemokratisch organisiert sein.
Über den Tellerrand schauen: gesamtgesellschaftliche Veränderungen
Programmatisch wollen wir nicht bei der Mietpolitik halt machen. Die drängendsten Probleme in Berlin betreffen auch, aber nicht nur das Mietniveau, sondern die allgemeine Wohnsituation und Stadtenwicklung: Verdrängung, in Berlin jährlich bis zu 20.000 durchgeführte Zwangsräumungen und bis zu 10.000 obdachlose Menschen, explodierende Mieten und spekulativer Leerstand sind alles Symptome der Tatsache, dass Wohnraum als Ware gehandhabt wird und die Politik diese schützt und unterstützt. Mieter*innen haben kein Mitbestimmungsrecht über ihren Wohnraum und die Wohnsituation entzieht uns die Freiheit zu leben, wie wir wollen oder es brauchen. Bedürfnisse werden dem Profitstreben und den Interessen von Wohnungsunternehmen untergeordnet. Es bedarf einer umfassenden Demokratisierung der Wohnsituation, die es ermöglicht, dass alle Mieter*innen mit- bzw. selbst bestimmen und ihre Interessen und Bedürfnisse geltend machen können.
Solange die Menschen keine Entscheidungsmacht über die Räume haben, in welchen sie leben oder leben wollen, werden sich diese Zustände nicht ändern. Wohnraum darf keine Ware sein, sondern Entscheidungen sollten von Bewohner*innen selbst getroffen werden können. Da die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche zusammenhängen, müssen neben der Vergesellschaftung von Grund und Boden ebenso Gesundheits- und Lebensmittelversorgung, Bildung, Energie usw. in den Dienst und unter die Kontrolle der gesamten Gesellschaft gestellt werden. Ebenso sind in unserer Stadt vor allem Mieter*innen von Verdrängung und prekären Wohnverhältnissen betroffen, die strukturell diskriminiert werden. Dadurch bleibt unter anderem wenig am Monatsende für die Miete oder sie haben schlicht keine Chance auf dem Wohnungsmarkt. Das ist kein Zufall, sondern hat System. Die Mieter*innengewerkschaft ist antirassistisch, feministisch und richtet sich gegen jede Form von Diskriminierung.
Umfassende Selbstbestimmung kann nicht über einzelne Teilbereiche verwirklicht werden. Eine emanzipatorische Gewerkschaft muss daher den Aufbau eines kollektiven Mietrechts, das Selbstbestimmungsrecht der Mieter*innen und die Vergesellschaftung des privaten Wohnungsmarkts als Teil eines Kampfs für eine solidarische Gesellschaft begreifen und verwirklichen. Dies bedeutet in der Konsequenz auch eine lokale wie überregionale Vernetzung mit anderen Initiativen und Gewerkschaften, die im Bereich von Demokratisierung arbeiten. Gemeinsam können wohnpolitische Forderungen entwickelt werden, die sich in eine progressive gesellschaftliche Politik von unten einfügen.
Initiative Mieter*innengewerkschaft Berlin | 2020